Ähnliche Argumente - andere Ziele
Am 17. September 2016 trafen sich etwa 5.000 Lebensschützer*innen zum „Marsch für das Leben“ in Berlin. Es war die 12. Demonstration dieser Art in der deutschen Hauptstadt: Ein Schweigemarsch flankiert von einer Auftaktveranstaltung und einem Abschlussgottesdienst.[1] Mit knapp 40 Bussen waren radikale Christ*innen aus ganz Deutschland und verschiedenen europäischen Ländern angereist, um „für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“ zu demonstrieren. Der Marsch wird vom Bundesverband Lebensrecht (BVL) organisiert, der radikale Organisationen einbindet, aber versucht, gemäßigt aufzutreten[2]. Die Bildsprache der Märsche wird kontrolliert und sorgfältig orchestriert: Die mitgeführten 1.000 weißen Kreuze sollen dem Gedenken an das „getötete ungeborene Leben“ dienen, Schilder mit politischen Parolen werden zentral ausgegeben, selbst mitgebrachte Schilder und Transparente müssen genehmigt werden. Unter „Lebensschützern“ eigentlich beliebte Bilder von blutigen Föten sind daher selten.
Rechtskonservative
Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „Lebensschützer“ keinesfalls harmlos sind. Ihr primäres Ziel ist die Einschränkung der Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch, sei es durch Gesetzesverschärfungen, Mahnwachen vor Abtreibungspraxen oder Erhöhung des moralischen Drucks auf ungewollt schwangere Personen und Ärzt*innen. Föten sind für sie gleichwertige, mit vollen Rechten ausgestattete Personen, statt von werdenden Müttern und werdenden Kindern sprechen sie konsequent von „Müttern“ und „ungeborenem Leben“ und behaupten, um das Wohl von Kindern und Frauen besorgt zu sein. Dabei genügt ein Blick auf die Bedingungen illegalisierter Abtreibungen, um zu wissen, dass Forderungen nach Strafen für Abtreibungen nie frauenfreundlich sein können. Die vermeintlich edlen Motive kommen aus der dezidiert rechtskonservativen Ecke und finden dort über ihren antifeministischen Gehalt Anknüpfungspunkte zu weiteren Akteuren wie den „Besorgten Eltern“, den „Demos für Alle“, der AfD oder der extrem rechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“. All diese Gruppen stellen sich gegen die Emanzipation von traditionellen Familienformen und Geschlechterrollen und propagieren eine nur auf Reproduktion gerichtete Sexualität.
Die deutsche „Lebensschutz“bewegung hat ihr Themenspektrum in den letzten Jahren in Richtung Biopolitik erweitert: Um eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz auch in der Mitte der Gesellschaft zu erreichen hat sie sich gegen Sterbehilfe, Pränataldiagnostik (PND) und Präimplantationsdiagnostik (PID), Organspende, Embryonenforschung und selektive Schwangerschaftsabbrüche positioniert. Viele ihrer in den letzten Jahren neu hinzugekommenen Parolen gehen in diese Richtung: „Inklusion beginnt schon vor der Geburt“, „Verantwortung statt Abtreibung“, „Töten ist keine ärztliche Kunst“, „ungeboren + behindert = wertlos?“. In diesen ethischen Debatten wollen sie als die vermeintlich einzig konsequenten Kritiker*innen menschenfeindlicher Techniken wahrgenommen werden und versuchen sich - teilweise durchaus erfolgreich - als Vertreter*innen der Interessen von Menschen mit Behinderung und Verbündete der Behindertenbewegung darzustellen.
Gegen den Bluttest
Wie schon am Motto des Marsch für das Leben 2016, „Kein Kind ist unzumutbar“, zu erkennen, stand das Thema Pränataldiagnostik und die Einführung des Bluttestes auf Trisomien in die Regelversorgung der Krankenkassen deutlich im Mittelpunkt der Veranstaltung[3]. Gleich zwei Ärztevertreter, der Kinderarzt Holm Schneider von der Aktion Lebensrecht für Alle (AlfA) und Paul Cullen, Vorsitzender der Ärzte für das Leben (ÄfdL), warnten in ihren Reden vor den Tests. Zu vermuten ist, dass Ärzt*innen und Medizinstudent*innen in Zukunft verstärkt in den Fokus der „Lebensschutz“-Propaganda rücken dürften.
Zusätzlich zu den Reden wurde auf der Auftaktkundgebung vor dem Reichstag eine Resolution gegen die Tests verabschiedet - eine neue Aktionsform bei den Märschen für das Leben. Der BVL lehnt darin solche Tests auch deswegen ab, weil diese die Abtreibungswahrscheinlichkeit „massiv bei kleinsten Verdachtsmomenten“ erhöhen würden - an dieser Stelle ist jedoch die Aufzählung der „Lebensschutz“-typischen Argumentation bereits beendet. Ansonsten könnten die Argumente gegen die neuen Tests wohl auch die meisten GID-Leser*innnen unterschreiben: Sie finden sich so ähnlich in Pressemitteilungen des GeN, des Hebammenverbandes oder der Lebenshilfe wieder, einzelne sogar in queer-feministischen Aufrufen zur Blockade der Märsche für das Leben. „Medizinkonzerne“ wollten sich mit den Tests „einen riesigen Markt zu Lasten aller Krankenversicherten sichern“, die Tests würden in ihrer Werbung den „Schwangeren ein sicheres Gefühl“ versprechen, tatsächlich würde jedoch die „Verunsicherung“ erhöht, „ohne konkrete Behandlungsmöglichkeiten zu eröffnen“. Der „Druck auf Schwangere nur noch Kinder ohne Beeinträchtigungen zu bekommen“ nehme durch die Tests immer weiter zu, was „das Klima in unserer Gesellschaft erheblich zuungunsten von Menschen mit Behinderungen und deren Eltern“ verändere. Dies widerspreche „allen Inklusions- und Antidiskriminierungsbemühungen“[4].
Diese offensichtliche Anschlussfähigkeit der „Lebensschutz“bewegung an aktuelle behindertenpolitische Begriffe und Debatten ist relativ neu und ergänzt die bisherige fötuszentrierte Kritik. In der Vergangenheit behaupteten Abtreibungsgegner*innen eher eine direkte Diskriminierung behinderter Föten durch PND und PID, weil diese durch die Nichteinpflanzung beziehungsweise Abtreibung schlechter behandelt würden als solche ohne auffällige Diagnosen.
Nicht Feministinnen argumentieren also wie „Lebensschützer“ - vielmehr argumentieren Abtreibungsgegner*innen mittlerweile wie Feministinnen, da beide Bewegungen aus unterschiedlichen Gründen die behindertenpolitisch motivierte Kritik an selektiver pränataler Diagnostik aufgenommen haben[5]. Dass ein Unterschied zwischen Positionen zu PND der „Lebensschutz“bewegung und Positionen von emanzipatorischen Feministinnen kaum festzustellen ist, ist dennoch ein Problem. Dies muss in den feministischen und linken Mobilisierungen gegen die „Lebensschützer“ viel stärker diskutiert werden - langfristige Strategien lassen sich nur entwickeln, wenn die feministische Kritik an selektiver und ableistischer Pränataldiagnostik geschärft und verbreitert wird. Außerdem ist es zunehmend wichtig, in den feministischen, behindertenpolitischen und emanzipatorischen Stellungnahmen und Pressemitteilungen auch die Bedingungen für Schwangerschaftsabbrüche zu thematisieren. In Bündnissen gegen die Liberalisierung biopolitischer Zugriffe dürfen „Lebensschutz“gruppen keinen Platz haben. Grundlage jeglicher Zusammenarbeit sollte die Verständigung darüber sein, dass die Einschränkung von Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs nicht der richtige Weg ist, um gesellschaftliche Behindertenfeindlichkeit, negative Annahmen über Behinderung und die Ausweitung pränataler Diagnostik zu bekämpfen.
In Kooperation mit dem Gen-ethischen Netzwerk.
[1] Eine Einschätzung zu der Demonstration im vorangegangenen Jahr: Willkommenskultur für Ungeborene? GID 232, Oktober 2015, S. 39, www.gen-ethisches-netzwerk.de/GID/232/achtelik/willkommenskultur-für-ungeborene.
[2] Der 2001 gegründete BVL ist der Dachverband deutscher „Lebensschutz“-Organisationen. Vorsitzender des aus 13 Organisationen bestehenden Verbandes ist seit 2009 der gut vernetzte katholische Publizist Martin Lohmann.
[3] Eine ausführliche Bilanz des Marsches bei Ulli Jentsch, Eike Sanders: Christlicher Demotourismus nach Sodom und Gomorra, www.apabiz.de oder www.kurzlink.de/gid240_h.
[5] In der feministischen Bewegung entwickelte sich seit Mitte der 1980er Jahre Kritik an dem bis dahin dominanten Selbstbestimmungsbegriff, an pränataler Diagnostik und humangenetischer Beratung, hauptsächlich auf Anregung von Feministinnen mit Behinderung. Diese Kritik wird jedoch bis heute nur von einer Minderheit der Feministinnen geteilt. Siehe dazu auch Kirsten Achtelik: Gentechnikkritik revisited, GID 239, Dezember 2016, S. 39-41.